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Persönlichkeit: Stil oder Störung?

Persönlichkeit ist dimensional. Wie bei Grösse oder Gewicht gibt es Menschen in allen Formen und Grössen und Persönlichkeitsvariationen. Was ist der Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterhöhung? Zwischen gerne Dinge gut machen und Perfektion fordern? Irgendwo entlang eines Kontinuums reichen die Persönlichkeitsmerkmale von anpassungsfähig bis starr und extrem. Das ist im Wesentlichen der Unterschied zwischen Persönlichkeitsstil und Persönlichkeitsstörung.

Persönlichkeitsstil

Persönlichkeit ist das charakteristische Muster der eigenen psychologischen Funktion. Es ist die Art und Weise, wie man denkt, fühlt und sich verhält. Persönlichkeitsstile sind die „andere Seite“ der Störung: die alltäglichen Muster der Unterschiede, die uns alle charakterisieren.

Stile sind der eingebaute Leitplan für die Bewältigung der Herausforderungen des Lebens. Persönlichkeitsstile sind flexibel. Sie können sich ändern, wenn auch meist nicht ohne Anstrengung und Motivation. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht eine Vielzahl von Lebenserfahrungen und -ergebnissen.

Ein Persönlichkeitsstil ist nicht pathologisch und ist daher Bestandteil der Psychologie, jedoch nicht der Psychiatrie.

Persönlichkeitsstörung

Eine Persönlichkeitsstörung ist eine extreme Version eines Stils. Dies ist jedoch kein positiver Vorteil, sondern eine enorme Belastung, die das effektive Funktionieren in vielen Aspekten des Lebens beeinträchtigt. Das Leiden und die Verzweiflung jener Menschen, die mit diesen Behinderungen zu kämpfen haben, ist schrecklich.

Menschen, die an Persönlichkeitsstörungen leiden, finden sich in starren und unflexiblen Lebenswegen wieder. Sie können sich gelangweilt, leer, einsam oder wütend fühlen, und sie befinden sich oft in destruktiven Beziehungen. Diese Muster können ihr ganzes Leben lang bestehen bleiben.

Die organisierte Medizin verwendet offizielle Bezeichnungen, um Krankheiten zu diagnostizieren. In der Psychiatrie sind diese Diagnosen im US-amerikanischen DSM und im internationalen ICD aufgeführt. In diesem Beitrag nehme ich Bezug auf die, in der aktuellen Ausgabe des DSM-5 enthaltenen 10 Persönlichkeitsstörungen sowie vier weitere spezifische Störungen, die in früheren Ausgaben des Diagnosehandbuchs enthalten waren.

Das Persönlichkeitsstil-Persönlichkeitsstörungen-Kontinuum

PERSÖNLICHKEITSSTIL
PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG

Einzelgängerisch

Gern für sich. Unabhängig. Unsentimental. Stoisch. Eigenständig.

Schizoid

Losgelöst von Beziehungen und lieber allein. Asexuell. Scheinbar gleichgültig gegenüber Lob oder Kritik. Kalt, distanziert, emotionslos. Sie haben wenig Freude an Aktivitäten

Eigenwillig

Unkonventionell. Spirituell. Spekulativ. Nach innen gerichtet. Ursprünglich. Andersartig.

Schizotypisch

Seltsam oder eigenartig in Denken, Aussehen, Sprache und emotionalem Ausdruck. Misstrauisch gegenüber anderen. Mangel an Beziehungen. Oft sicher, dass weltliche Ereignisse eine besondere Bedeutung haben. Sozial ängstlich bis zum Äussersten.

Abenteuerlich

Nicht konform. Risikofreudig. Selbstständig. Überzeugend. Mutig. Spontan. Ständig auf Achse. Unbekümmert.

Antisozial

Lügen und betrügen. Nicht in der Lage oder nicht gewillt, sich an soziale Normen anzupassen. Impulsiv. Reizbar und aggressiv. Verantwortungslos. Gleichgültig gegenüber dem Leiden anderer.

Launenhaft

Intensiv. Leidenschaftlich. Reaktiv. Romantisch. Treibend. Kreativ. Einfallsreich. Fordernd. Bedürftig. Wandelbar.

Borderline

Grosse Angst vor dem Verlassenwerden. Anfällig für intensive und instabile Beziehungen. Unsicher, wer sie sind oder wohin sie im Leben gehen. Rücksichtslos impulsiv. Emotional sehr wechselhaft. Neigen dazu, sich leer zu fühlen.

Dramatisch

Emotional. Bunt. Aufmerksam. Attraktiv. Verführerisch. Gutgläubig. Intuitiv. Spontan. Einfallsreich.

Histrionisch

Suchen nach Aufmerksamkeit und leiden, wenn sie nicht im Zentrum davon stehen. Extrem suggestiv. Glauben oft, dass Beziehungen intimer sind, als sie es sind. Emotional dramatisch und theatralisch. Investieren stark in die körperliche Erscheinung. Sexuell provokant.

Selbstbewusst

Selbstbewusst, berechtigt, ehrgeizig, politisch, wettbewerbsfähig, erfolgreich, souverän, charmant.

Narzisstisch

Grandios und stehts damit beschäftigt, der oder die Beste zu sein. Fordern übermässige Bewunderung. Enorme Anspruchshaltung. Ausbeutung anderer. Es fehlt an Empathie. Neidisch auf andere oder sicher, dass andere neidisch auf sie sind. Arrogant und hochmütig.

Ängstlich-vermeidend

Überempfindlichkeit gegen negative Bewertung. Nicht bereit, sich zu engagieren, es sei denn, die Zustimmung anderer ist sicher. Unter Menschen gehemmt. Übermässig risikoscheu aus Angst vor Beschämung oder Verletzung. Fühlen sich minderwertig und unattraktiv.

Hingebungsvoll

Tief verbunden und engagiert. Bevorzugung der Mitgliedschaft gegenüber der Führung. Ehrerbietig. Höflich. Rücksichtsvoll. Kooperativ.

Dependent

Übermässige Abhängigkeit von anderen für Rat, Bestätigung und Pflege. Unfähig, Meinungsverschiedenheiten mit anderen auszudrücken. Mangelndes Selbstvertrauen, um Projekte oder Aktivitäten zu initiieren oder alltägliche Entscheidungen zu treffen. Tun alles erdenkliche, um Unterstützung oder Zustimmung zu finden. Beschäftigt mit der Angst, allein gelassen zu werden.

Gewissenhaft

Hart arbeitend. Detailorientiert. Ausdauernd. In Richtigkeit investiert. Perfektionist. Umsichtig. Ordnungsliebend. Intellektuell.

Zwanghaft

Beschäftigt mit Regeln und Details. Perfektionistisch bis zum Äussersten, kann wichtige Aufgaben nicht rechtzeitig erledigen. Übermässige Hingabe an die Arbeit, mit hohen Kosten für andere Lebensbereiche. Moralisch unflexibel. Hartnäckig und starr. Unfähig, anderen die Freiheit zu geben, Aufgaben auf ihre eigene Weise zu erledigen.

Gemächlich

Unabhängig. Unbeschwerte. Genusssuchend. Beständig gegen Anforderungen. Selbstakzeptierend. Hartnäckig. Familienorientiert.

Passiv-aggressiv

Widerstehen Verpflichtungen indirekt, indem sie aufschieben, „vergessen“ oder stur sind. Mürrisch und argumentativ. Verachten Autorität. Fühlen sich häufig nicht wertgeschätzt und missverstanden. Neidisch auf und verärgert über andere, denen es besser geht. Abwechselnd trotzig und zerknirscht.

Aggressiv

Fühlt sich wohl mit Macht. Hierarchisch. Verantwortlich. Zielgerichtet. Mutig. Körperlich aktiv und durchsetzungsfähig. Diszipliniert.

Sadistisch

Grausam, gewalttätig oder erniedrigend, um zu dominieren. Hart, disziplinarisch und einschüchternd. Erfreuen sich am Leiden anderer. Kontrollierend in engen Beziehungen. Beschäftigt mit Waffen, Gewalt und Folter.

Aufopfernd

Grosszügig. Rücksichtsvoll. Altruistisch. Unvoreingenommen. Bescheiden. Lange leidend. Leichtgläubig.

Selbstzerstörerisch

Anfällig für Beziehungen und Situationen, die Enttäuschung und Misserfolg bieten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie Hilfe annehmen. Fühlen sich nach einem Erfolg wahrscheinlich schuldig oder depressiv. Es widerstrebt ihnen Freude zu geniessen oder anzuerkennen. Trotz ausreichender Fähigkeiten scheitern sie oft. Bringen Opfer für andere, die sie nicht wollen.

Siehe auch  Schizoide Persönlichkeitsstörung SPS

Ernsthaft

Nüchtern. Bescheiden. Rechtschaffend. Verantwortungsvoll. Nachdenklich. Auf alle Konsequenzen vorbereitet. Zuverlässig. Reuevoll.

Depressiv

Ausgesprochen freudlos und niedergeschlagen. Kritisch gegenüber sich selbst und anderen. Grübelnd, besorgt und pessimistisch. Fühlen sich wahrscheinlich unzulänglich, wertlos und schuldig.


Persönlichkeitsstil oder Persönlichkeitsstörung - Stil und Störung
Die Übergänge zwischen Persönlichkeitsstil und Störung lassen sich nur schwer exakt festlegen. Wo ist die Grenze?

Wo ist denn nun die Grenze, die Störung von Stil unterscheidet?

Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. An welchem Punkt auf dem Kontinuum ein Stil zur Störung wird, lässt sich nur im Konjunktiv formulieren. Ein Beispiel: Ein äusserst nützlicher Stil im Leben ist zum Beispiel der Selbstbewusste Stil. Einiges davon ist gut, mehr davon wahrscheinlich besser, aber zu viel davon könnte man als narzisstische Persönlichkeitsstörung bezeichnen.

Die Wahrheit ist, dass es tatsächlich keine Rolle spielt, ob die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung bei einem bestimmten Menschen nach offiziellen Kriterien gestellt werden kann oder nicht. Selbst Fachpersonen kommen bei der Einschätzung ein und des selben Exploranden oft genug zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ob die Diagnose Persönlichkeitsstörung vergeben werden kann oder vergeben werden sollte, entscheidet sich auch oft genug an anderen als diagnostischen Kriterien. Ein Beispiel für ein solches Kriterium ist die Kostenübernahme der Therapie durch Krankenversicherer.

Dies bedeutet nun aber nicht, dass die Diagnose vollkommen überflüssig ist. Jede Therapie erfordert ein Konzept („Wie kann dem Klienten am besten geholfen werden?“) und das richtige Behandlungskonzept findet sich, indem der Therapeut fragt: „Was ist das für ein Mensch? Wie tickt er? Welche Muster hat er verinnerlicht? Wie reagiert er auf bestimmte Situationen?“. Die Antworten auf diese Fragen beschreiben den persönlichen Stil der Unterstützung suchenden Person.

Und hier wird eine weitere Wahrheit deutlich: Man kann auf beiden Seiten des Stil-Störungs-Kontinuums durchaus Probleme haben, die es wert sind, behandelt zu werden. Man muss sich nicht zuerst das Exklusivrecht auf eine Psychotherapie mit einer offiziellen Diagnose verdienen.

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