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Liebe: Eine Borderline-Erfahrung

Ich treffe Angelika, die mir ihre Geschichte und ihre persönliche Erfahrungen aus einer Beziehung mit einem Mann mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung erzählt. Es ist eine individuelle Erfahrung, aber trotzdem ein recht klassisches Beispiel dafür, was alles passieren kann, wenn man einen Psycho liebt.


Die Geschichte von Angelika

Erinnerungen an ihre Beziehung mit einem Betroffenen einer Borderline-PS

Angelika ist Mitte zwanzig, als sie M. im Internet kennenlernt. Angelika ist introvertiert, übergewichtig, einsam, aber auch intelligent und beruflich äusserst erfolgreich als Software-Entwicklerin. Sie ist eher rational als emotional und erkennt daher nicht, dass sie seit Monaten mit einer depressiven Erkrankung kämpft. Sie fühlt nur eine tiefe Unzufriedenheit und Einsamkeit. Sie möchte aus ihrem kleinen perfekten Leben ausbrechen und endlich wieder etwas fühlen.

M. präsentiert sich online als Untergrund-Revolutionär und wettert gegen das Establishment, das System, die Regierung und ganz besonders gegen die Banken. Angelika, die für eine grosse Bank Software entwickelt, kann viele seiner Argumente durchaus nachvollziehen, teilt aber nicht die gewaltbereite Kampfbereitschaft ihrer Internetbekanntschaft. Ebenfalls fällt ihr auf, dass M. oft stundenlang über seine Ex-Freundin schreibt und diese abwechselnd in den Himmel hebt und dämonisiert.

Es kommt bald zum ersten Treffen in der realen Welt und Angelika ist erstmal ernüchtert. Ihr grossartiger Freiheitskämpfer entpuppt sich als arbeitsloser Dauerkiffer, der kurz davor steht ausgesteuert zu werden und obendrauf in einer Mietwohnung lebt, bei der die Zwangsräumung bereits amtlich angekündigt wurde. Der grosse Held scheint nun eher als kleiner Versager und besonders attraktiv ist er auch nicht. Trotzdem hat Angelika bereits beim ersten Besuch bei M. Sex mit ihm. Für sie ist es ein One-Night-Stand, eine Nacht lang Flucht aus ihrer Sinnlosigkeit und Einsamkeit.

Borderline: Eine Welt ohne Grautöne

Sie ist etwas überrascht, als der Kontakt nach dem ersten Treffen nicht abbricht. M. schwingt nun weniger grosse Reden, aber erzählt oft von seiner traumatischen Erfahrung mit seiner Ex-Freundin und wie ihn diese Beziehung in seiner aktuelle Lebenslage gebracht hat. Angelika versteht zwar selbst nach stundenlangen Chats nicht wirklich, was denn nun diese Ex-Freundin böses getan haben soll. Stattdessen erfährt sie einiges darüber, was M. getan hat: Er hat seine Ex-Freundin nicht nur geschlagen, sondern auch ihre Katzen auf grausame Art zu Tode gequält. Er schwankt zwischen Reue betreffend seinen Taten und Zorn der Gerechten („die Ex hat ihn dazugetrieben“). Angelika hat Mitleid und bietet M. ein Zimmer zur Untermiete in ihrer 5-Zimmer-Wohnung an.

„Ich wusste, dass ist vollkommen bescheuert, aber den Teil wollte ich nicht sehen. Ich habe nur daran gedacht, wie schön es wäre nicht mehr so allein zu sein und gleichzeitig jemandem der dringend Hilfe braucht eine Chance zu geben.“, sagt Angelika heute.

Wie sehr ihr Leben nun entgleisen wurde, konnte Angelika zu diesem Zeitpunkt wirklich nur düster ahnen.

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Leben auf dem Vulkan

Bereits wenige Tage nachdem M. bei ihr eingezogen war, kam sein erster Ausraster und die Vorfälle häuften sich und nahmen an Intensität und Verrücktheit stetig zu. Angelika arbeitet weiterhin Vollzeit. Nach der Arbeit macht sie den Haushalt und kocht für ihren Gast. Diesen sieht sie selten ohne Joint in der Hand. Die Nächte verbringt er im Internet und tagsüber schläft er. Als Angelika an einem Samstagmorgen um Zehn die Wohnung staubsaugt, stürmt M. wutentbrannt aus seinem Zimmer. Er brüllt sie an was ihr einfalle so rücksichtslos zu sein und reisst das Kabel vom Staubsauger so heftig aus der Dose, dass diese aus der Wand gerissen wird.

Bei einem anderen Vorfall setzt sich ein gutgelaunter M. an den Esstisch und explodiert, als Angelika das Essen auftischt: Sie hat Zwiebeln in die Sauce getan und die mag M. nicht, aber anstatt dies höflich zu erklären, wirft er den Teller samt Essen gegen die Wand.

Angelika ist immer wieder baff, wenn es zu solchen Ausbrüchen kommt. „Damit rechnet man nicht. Man kann es nicht fassen. Ich habe meist kein Stück weit begriffen, was denn nun eigentlich gerade passiert ist.“, sagt sie heute. Sie tut, was normale Menschen in solchen Situationen tun: Sie versucht mit M. zu reden und ihm klar zu machen, dass das so nicht geht. Er ist auch durchaus immer wieder einsichtig und verspricht Besserung. Aber es wird nicht besser, es wird schlimmer.

Angelika und M. sind kein Paar. Sie wäre zwar offen für eine Beziehung, aber M. sagt ihr immer wieder, so etwas wie Angelika könne er nicht lieben und spielt damit auf ihr Übergewicht an. Trotzdem wird M.s rasende Eifersucht schon im ersten Monat des seltsamen WG-Experiments zu einem grossen Problem. Er fängt an Angelika auf Schritt und Tritt zu überwachen. Ruft sie mehrmals täglich auf der Arbeit an und rastet aus, wenn sie sich mit Kollegen verabredet. Immer wieder unterstellt er ihr, sie habe oder wolle Sex mit anderen Männern. Angelika steht unter Dauerstress und versucht bald nur noch eines: Den nächsten Ausraster von M. irgendwie zu verhindern.

Borderline: Entfremdung

Sie bricht den Kontakt zu Freunden und Familie ab, da jeder eingehende Anruf, jede SMS M. sauer machen könnte. Angelika hat Angst vor seinen Wutausbrüchen, erst recht nachdem M. im Streit androht, sich auch um „ihre beiden Katzen zu kümmern“. Sie fordert M. mehrfach auf, ihre Wohnung zu verlassen und sich eine andere Bleibe zu suchen. Dieser lässt jedoch jedes Ultimatum einfach verstreichen. Schlimmer noch: Um vom Sozialdienst finanzielle Unterstützung zu erhalten …

muss er einen Mietvertrag vorlegen. Da M. Angelika’s Geld mit beiden Händen ausgibt, ist sie bald in einer Lage, in der es notwendig wird, dass ihr Untermieter seinen Teil zum Haushaltsbudget beiträgt. Sie versucht zwar noch, mit dem Sozialdienst zu verhandeln, ihre Lage zu erklären, aber auf dem Amt bleibt man hart. Also unterzeichnet Angelika den Vertrag und erteilt dem unberechenbaren M. so Aufenthalts- und Bleiberecht in ihrer Wohnung.

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Vom Geld, welches M. nun monatlich vom Sozialdienst erhält, hat Angelika jedoch nichts. M. weigert sich schlicht, seinen Anteil zu zahlen und gibt das Geld lieber für Markenklamotten und Studio-Zubehör aus. Das ist nämlich sein liebster Wunschtraum: Er möchte ein erfolgreicher DJ und Musikproduzent werden. Talent erkennt Angelika keines. Genau so wie sie nicht bemerkt, dass M. heimlich und schamlos mit ihren Kreditkarten zahlt. Da Angelika bei der Bank bei der sie arbeitet gut verdient, hat sie mehrere Kreditkarten mit recht hohen Limiten. Die Abrechnungen kommen monatlich und Angelika schenkt ihnen wenig Beachtung. Erst als die erste Karte gesperrt wird, nimmt sich Angelika die Zeit die Abrechnungen mal genauer zu prüfen und fällt aus allen Wolken. In drei Monaten hat sich ihr Untermieter Waren im Wert von knapp 35’000.- CHF geleistet.

Angelika bricht zusammen. Zudem leidet sie schon wochenlang an schweren Magen-/Darm-Problemen, die ständige Angst hat sich tief in ihre Eingeweide gefressen. Sie fehlt immer öfter bei der Arbeit und wird nachdem Kreditkarten-Schock-Zusammenbruch erstmal bis auf weiteres krankgeschrieben.

Die Krankschreibung sollte Erleichterung und Erholung bringen, aber da sie nun ständig zuhause ist, führt das nur zu noch mehr Problemen mit ihrem unberechenbaren Untermieter und Gelegenheits-Lover. Es dauert nicht lange, bevor dieser nun auch zu körperlicher Gewalt greift. Bald vergeht keine Woche mehr, in der M. entweder Angelika, ihre Wohnungseinrichtung oder sonst etwas zu Bruch schlägt. Angelika wehrt sich so gut sie kann, ruft sogar mehr als einmal die Polizei. Da M. jedoch einen Mietvertrag vorweisen kann, kann ihn die Polizei nicht aus der Wohnung weisen.

Häusliche Gewalt: Borderline Wut

Angelika lernt schnell, dass sie nachdem die Polizei da war, nur noch viel schlimmeren Attacken ausgesetzt ist. Sie resigniert vollkommen und denkt nun oft an Selbstmord, um dieser unglücksseligen Beziehung die keine ist, irgendwie zu entkommen. Sie lernt auch, dass die zuckersüssen Phasen die M. im Wechsel mit seinen Zornausbrüchen hat, nicht zu trauen. Sie kann tun oder lassen was sie will, für M. ist sie vollkommen unabhängig von irgendwelchen nachvollziehbaren Gründen entweder Heilige oder Hure.

Nach einem besonders heftigen Ausbruch von M., landet Angelika mit einem gebrochenen Jochbein und zahlreichen blauen Flecken auf der Notaufnahme. Im Krankenhaus legt man ihr nahe, sich in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Angelika will eigentlich nicht: Er ist doch der Psycho. Die Verletzungen sind noch geheilt, als Angelika – diesmal mit eingeschlagenen Zähnen und einem Schlüsselbeinbruch – wieder im Krankenhaus landet. Schliesslich stimmt sie einem Klinikaufenthalt zu.

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In der psychiatrischen Klinik ist es nicht wirklich die Therapie, die etwas in Angelika verändert. Es ist die Ruhe und die Sicherheit. Es ist der Abstand zu M., der sie das erste Mal seit einem halben Jahr (ja, es ist wirklich erst ein halbes Jahr vergangen seit sie M. kennengelernt hat!) überhaupt einen klaren Gedanken fassen kann. Die Angst lässt nach und Angelika gewinnt etwas an Selbstsicherheit zurück. Die Medikamente helfen gegen die Depression.

Noch von der Klinik aus kündigt Sie ihre Wohnung. Leider bekommt sie auch von ihrem Arbeitgeber die Kündigung. Trotzdem fängt Angelika an, sich Stück für Stück eine gangbare Zukunft aufzubauen. Sie versteht, dass es mit M. kein Verhandlungsspielraum gibt. Dass es aussichtslos ist, mit ihm reden oder etwas klären zu wollen und dass es für sie nur einen Weg raus aus dieser Beziehung gibt: Sie muss den Kontakt zu M. vollkommen abbrechen.

Es wird weitere drei Jahre dauern, bevor Angelika dies auch wirklich gelingt, denn M. lässt nicht locker: Immer wieder ruft er an oder schickt SMS. Angelika wechselt die Telefonnumern und E-Mail-Adressen um so jede Kontaktmöglichkeit zu verschliessen. M. findet heraus wo Angelika wohnt und steht nun regelmässig vor ihrem Haus. Er demoliert Haustüren, klaut ihre Post aus dem Briefkasten, belästigt Nachbarn und versucht Angelika zurückzugewinnen.

Sie muss noch drei Mal umziehen und zahlreiche Versuche unternehmen, um für M. nicht mehr erreichbar zu sein.

Wenn nichts ausser Scherben bleibt

Als es endlich ruhig wird und M. endgültig aus ihrem Leben verschwindet, ist Angelika psychisch schwer angeschlagen, arbeitslos und finanziell ruiniert.

Wie viele Frauen die ähnliches durchmachen musste, schämt sie sich bis heute, dass ihr so etwas passieren konnte. Sie fragt sich, ob es ihr Fehler war. Ob sie ein einfaches Opfer war, ob sie Dinge anders hätte machen sollen. Und natürlich fragt sie sich bis heute, was dieser Mann, der immer wieder betont hat, er liebe sie nicht, aber sie dann gleichzeitig nicht gehen lassen wollte, überhaupt von ihr wollte. Warum hat er ihr das alles angetan?

Nun, weil er ein Psycho ist. Ich erkläre Angelika, dass ich diesem Phänomen immer wieder begegne: Angehörige von Menschen mit Persönlichkeitsstörung die sich wundern, warum sich ihre Psychos so unnormal verhalten. Die „Warum-Frage“ lässt sich jedoch eben genau nicht beantworten, wenn es um gestörte Menschen geht. Sie verhalten sich gestört, weil sie es sind und wir brauchen das gar nicht zu verstehen. Wir müssen uns nur entscheiden, ob wir das in unserem Leben haben wollen und können.

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Takeshi

Sehr mutig von dir, diese Geschichte zu teilen. ❤️