Eine Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung und übertriebener Perfektionismus gehen oft Hand in Hand. Betroffene versuchen, sich durch das Vermeiden jeglicher Fehler unantastbar zu machen. So bieten sie keine Angriffsfläche für die von ihnen so gefürchtete Kritik.
Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung und Perfektionismus
Erfahrungsbericht eines Betroffenen
Kürzlich habe ich mich um einen Job beworben und es zu einem Interview mit einem potenziellen Arbeitgeber in die zweite Runde geschafft. Die eine Frage kam: „Was ist Ihr grösster Fehler?“ Wie immer antworte ich, „Mein Perfektionismus.“
Fast immer erscheint dann auf dem Gesicht des Gegenübers dieser „Oh grossartig“-Ausdruck. Als ob wäre Perfektionismus gar keine Schwäche, sondern eine Stärke. Aber mein Perfektionismus ist wirklich meine grösste Schwäche, mein Untergang im Leben. Ich bin mein eigener schlimmster Feind, und ich habe mich mehr verletzt als jeder andere mich verletzt hat. Perfektionismus überschneidet sich auch mit so vielen anderen Themen in meinem Leben, nur um das Problem noch schlimmer zu machen.
Ich glaube, die meisten Menschen kennen nicht das ganze Spektrum des Perfektionismus. Ich lebe in und mit einem Extrembereich des Perfektionismus. Mein Perfektionismus war lähmend und führte zu jahrelangen Kämpfen mit zunehmenden und abnehmenden Depressionen, die völlig davon abhingen, wie gut ich meine Leistung wahrgenommen habe.
Meine perfektionistischen Neigungen lähmen mich oft, bevor ich überhaupt damit anfange, was ich so dringend tun will, weil ich von Anfang an perfekt sein muss. Ich verbringe Stunden um Stunden damit, alles und jedes zu erforschen, zum Teil, weil ich viele Interessen habe und gerne lerne, aber auch, weil ich darin perfekt sein will und nicht versagen darf. Ich muss es so gut wissen, dass ich nicht versagen kann. Erst viel später im Leben wurde mir klar, dass ich bei meinen Fehlschlägen viel mehr gelernt habe als bei meinen Erfolgen.
Ich zweifle ständig an meinen Fähigkeiten und habe ständig das Gefühl, dass ich mich bessern und mehr Unterricht nehmen muss, bevor ich irgendetwas anfange. Wann immer mich jemand ermutigt, den Sprung zu wagen, habe ich immer eine Ausrede. Einige sind gültig, aber eigentlich weiss ich, dass ich die benötigten Fähigkeiten bereits habe. Das Problem ist, ich glaube einfach nicht an mich selbst oder an meine Fähigkeiten. Mein Perfektionismus bewirkt, dass dieses beständige Bedürfnis ohne die Praxis und ohne die Möglichkeit des Versagens besser ist. Also, anstatt in das tiefe Ende zu springen, bleibe ich im seichten Ende, gelähmt und völlig überwältigt.
Mein Perfektionismus sperrt mich in den kleinsten Kästen ein und lässt mir keinen Raum, menschlich zu sein, zu versagen oder Fehler zu machen. Es ist total anstrengend und macht es mir schwer, mich zu verändern, zu verbessern oder zu akzeptieren, wer ich bin und wo ich bin.
Mein Perfektionismus umfasst Schwarz-Weiss-Denken. Als ich meinen Perfektionismus in meinem Vorstellungsgespräch erklärte, erwähnte ich, wie meine Produktivität beeinträchtigt werden kann, wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht den unmöglich hohen Standard erreicht habe, den ich mir gesetzt hatte. Ich kann mich nicht ausruhen, wenn ich meine Erwartungen nicht erfülle und übertreffe. Wenn ich es nicht tue, dann sehe ich alle meine Bemühungen als Versagen, anstatt wie viel ich gelernt habe und die Erfahrung, die ich während des Prozesses gemacht habe. Es ist alles oder nichts und es ist völlig ungesund.
Das Studium war der Weckruf, den ich brauchte. Meine üblichen Lernmethoden funktionierten nicht mehr, trotzdem lernte ich ständig. Meine Perspektive musste sich ändern, ich musste lernen, Abstriche zu machen und mit einem „genügend“ anstatt einer Bestnote zufrieden zu sein. Meine Art zu denken verschob sich, ich lernte, dass es auch möglich ist, Fehler zu machen und trotzdem sein Ziel zu erreichen.
Trotz meiner Ängste und Zweifel, die mein Perfektionismus hervorbringt, wage ich den Sprung in Aktivitäten, die ich schon immer machen wollte. Ich habe eine neue Stimme, die meine perfektionistische Stimme herausfordert, und allmählich wird meine perfektionistische Stimme leiser. Obwohl Perfektionismus wahrscheinlich immer ein Teil von mir bleiben wird, wie mir immer wieder und immer mehr bewusst wird. Und sich eines Problems bewusst zu sein ist die halbe Miete.
Fragen an andere ÄVPS-Betroffene
- Wie perfektionistisch bist du und in welchen Bereichen zeigt sich das besonders?
- Kannst du auch mal „drei gerade sein lassen“ und wenn ja, in welchen Situationen?
- Sind alle Menschen mit ÄVPS Perfektionisten? Was ist deine Theorie?
Deine Erfahrungen und deine Meinung interessieren! Hinterlasse eine Kommentar!
Dies ist ein Gastbeitrag von Kassandra. Herzlichen Dank!
Ich kenne das so gut 😖 Für mich wäre es sicher auch besser ich könnte mal Abstriche machen. Danke für den Beitrag!
Wie wahr. Im Studium habe ich sogar Klausuren durchgestrichen um sie noch mal schreiben zu können. Perfektionismus ^ 10. Ist wirklich blockierend. Gerade wenn man etwas anfängt und es nicht sofort perfekt beherrscht. Ärgere ich mich ohne Ende
Danke ❤️