Wie man jemanden lieben kann, der einem verletzt, ist nur schwer nachzuvollziehen. Tatsächlich können es auch die misshandelten Frauen selbst oft nicht verstehen. Ich habe Intimpartner-Gewalt erlebt und habe mich in dieser Zeit andauernd gefragt: „Warum gehst du nicht einfach?„. Erst heute, viele Jahre später habe ich auch eine Antwort: Weil es alles andere als einfach ist. Es sind starke Gefühle, Verwirrung und Unsicherheit im Spiel. Oft spielt auch Hoffnung eine Rolle: „Was ist, wenn er sich ändert?„. Oder Schuldgefühle: „Vielleicht bin ja doch ich die Ursache unserer Probleme?„. Man muss bedenken, dass auch die meisten missbräuchlichen Beziehungen am Anfang eine „Flitterwochen-Phase“ hatten.
Häusliche Gewalt entwickelt sich meist schleichend. Besonders Misshandlungen auf emotionaler und verbaler Ebene sind oft so subtil, dass selbst das Opfer sie lange nicht als gegen sie gerichtete Gewalt und Missbrauch wahrnimmt. Oft sind Betroffene solch subtiler verbaler und emotionaler Attacken, bereits dermassen beschädigt, dass sie gar nicht mehr fähig sind, auf erstmalige körperliche Gewalt angemessen zu reagieren. Es ist daher sehr wichtig eine entscheidende Frage ganz am Anfang zu klären
Was ist Gewalt durch Intimpartner?
Partnergewalt bezieht sich auf jede Form körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt zwischen Intimpartnern.
Dazu gehören Verhaltensweisen wie:
- Stalking
- Drohen, Drohungen
- Körperliche Gewalt
- Sexueller Druck oder Zwang
- Demütigungen
- verbale Gewalt anwenden
- Finanzkontrolle ausüben
- stark kontrollierendes Verhalten
Von Gewalt durch einen Intimpartner sind Menschen jeden Alters und beiderlei Geschlechts betroffen, Männer jedoch bedeutend weniger häufig. Ebenso gibt es Partnergewalt in allen Schichten, Milieus, Bildungsstufen und Einkommensklassen.
Es kann in allen Arten von sexuell oder emotional intimen Beziehungen auftreten und betrifft Menschen jeden Geschlechts, Alters und Hintergrunds.
Warum lieben manche Menschen ihren gewalttätigen Partner?
Es ist keine Seltenheit, Liebe für jemanden zu empfinden, der einem gegenüber missbräuchlich ist. Es gibt viele Gründe, warum dies passieren kann, insbesondere wenn die Liebe vor dem Missbrauch kam.
Sobald man feststellt, dass einige der erlebten Verhaltensweisen des Partners missbräuchlich sind, verschwinden diese Gefühle nicht unbedingt. Lieben ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Wunsch, in der Beziehung zu bleiben.
Gründe, die missbräuchliche Beziehung nicht zu beenden:
- Angst, alleine zu sein oder Angst, dass sich der missbrauchenden Partner rächen wird, wenn man die Beziehung verlässt.
- Fehlende finanzielle Mittel. Es ist keine Seltenheit, dass gewalttätige Intimpartner auch diesen Bereich der Beziehung vollkommen kontrollieren.
- Es gibt Kinder in dieser Beziehung.
- Religiöse, kulturelle oder moralische Überzeugungen und Erwartungen, die Betroffene davon abhalten, wegzugehen.
- Einer „Gehirnwäsche“ unterzogen worden zu sein. Stetige psychische Misshandlung bringt auch den stabilsten Menschen vollkommen aus dem Konzept. Betroffene stehen oft „total neben sich“.
Gründe einen gewalttätigen Intimpartner „trotzdem“ immer noch zu lieben:
Verleugnung als Abwehrmechanismus
Etwas zu verleugnen ist ein Schutzmechanismus des Verstandes, der vor unangenehmen und belastenden Gefühlen schützt. Es ist eine Überlebensreaktion auf Schmerzen und auf Erfahrungen die uns überfordern.
Verleugnung kann sich auf viele Arten ausdrücken. So sehen sich einige einfach nicht als „Opfer von Misshandlung“. So etwas passiert nur anderen Leuten, aber doch nicht ihnen. Sie finden stets allerlei andere Bezeichnungen oder Erklärungen für die Verhaltensweisen des Partners. Diese Betroffenen lieben ihre gewalttätigen Intimpartner weiterhin und bleiben bei ihnen, weil sie einfach nicht wahrhaben und glauben können, dass ihnen das alles gerade wirklich passiert.
Männer in missbräuchlichen Beziehungen sind oft besonders anfällig für Verleugnung. Dies dürfte auf kulturellen Druck und die Stigmatisierung von männlichen Opfern von Gewalt durch weibliche Täterinnen zurückzuführen sein. Gewalt die von Frauen gegen ihre Intimpartner gerichtet ist, ist gerade weil sie prägnant weniger häufig auftritt, oft noch viel problematischer. So deuten einige Studien darauf hin, dass Männer dazu neigen, häufiger in missbräuchlichen Beziehungen zu bleiben als Frauen. Das ist wenig erstaunlich, belegen doch andere Untersuchungen, dass Männer oft mit Spott, Gleichgültigkeit oder Ungläubigkeit konfrontiert werden, wenn sie sich hilfesuchend an Familie, Freunde oder Behörden wenden. Diese sozialen Faktoren sowie ihre Gefühle können dazu führen, dass sie einen Zustand der Verleugnung entwickeln, in dem sie übersehen, dass sie sich in einer missbräuchlichen Beziehung befinden.
Der Missbrauchszyklus
Missbrauch in einer romantischen Beziehung kann manchmal in vier verschiedenen Phasen auftreten, die als Missbrauchszyklus bezeichnet werden.
Die 4 Phasen des Missbrauchszyklus:
- Spannungen bauen sich auf und der gewalttätige Partner zeigt Anzeichen von Wut und Frustration.
- Der Vorfall von emotionalem, körperlichem oder sexuellem Missbrauch tritt auf.
- Die Versöhnung beginnt nach dem missbräuchlichen Vorfall, und der gewalttätige Partner entschuldigt sich oder versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen.
- In der vierten Phase beginnt ein Zustand der Ruhe, und die missbrauchende Person sagt Dinge wie: „Das wird nie wieder passieren.“
Besonders die letzten beiden Phasen können dazu führen, dass Betroffene weiterhin Gefühle für ihren Partner empfinden. Diese Phasen wecken oft Erinnerungen an die guten Zeiten am Anfang der Beziehung. Dieser Zustand des vorübergehenden Friedens lässt oft auch die Entschlossenheit den gewalttätigen Intimpartner zu verlassen, ins Wanken geraten.
Persönlichkeitsstörungen und Bindungsstile
Gewalt, Misshandlung oder Missbrauch zu erfahren ist niemals die Schuld der Betroffenen. Es gibt keine legitimen Gründe die es rechtfertigen jemanden, egal in welcher Weise, zu verletzten. Es gibt auch niemanden, der es verdient haben könnte verletzt zu werden. Trotzdem gibt es bestimmte psychische Erkrankungen die dazu führen können, dass Betroffene unbewusst diese Art von Beziehungen eingehen. Manche Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen neigen dazu, sich ganz intuitiv in missbräuchliche Partner zu verlieben.
Auch Ergebnisse aus verschiedenen Untersuchungen zeigen, dass bestimmte Persönlichkeitsstörung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verbunden sind, dass Betroffene in einer missbräuchlichen Beziehung leben. Besonders oft betroffen sind Menschen mit schizoider, ängstlich-vermeidender, Borderline– oder dependenter Persönlichkeitsstörung. Zu den häufigen Symptomen dieser Erkrankungen gehören ein geringes persönliches Selbstwertgefühl, Abhängigkeit und Unterwürfigkeit. Dies ist jedoch lange nicht bei allen Betroffenen dieser Persönlichkeitsstörungen der Fall.
Kindheitstraumata und ein unsicherer oder ängstlicher Bindungsstil können auch die Chancen erhöhen, eine romantische Beziehung mit einem gewalttätigen Partner einzugehen und die Beziehung trotz Gewalt fortzuführen.
Starke Verwirrung bedingt durch Manipulationstaktiken des Partners
Einige missbrauchende Partner wenden Manipulationstaktiken an, die dazu führen, dass sich Betroffene unsicher und verwirrt fühlen. Missbrauchende Partner mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung spielen oft sehr gekonnt Psychospiele. Sie täuschen und manipulieren oft so gekonnt, dass potentielle Partnerinnen anfangs wirklich glauben, einen perfekten Partner gefunden zu haben („Zu schön um wahr zu sein?„). Frauen mit diesem Krankheitsbild spielen manchmal das Opfer, um Mitgefühl zu wecken und den Partner darüber zu steuern.
Taktiken, einschliesslich Gaslighting oder Projektionen, können sehr verwirrend sein, auch auf emotionaler Ebene („Nicht mehr wissen was man fühlt.„). Dies kann es schwierig machen zu verstehen, warum du jemanden liebst, der dich verletzt.
Die „kleine Freundlichkeit“
Der Zyklus des Missbrauchs ist unvorhersehbar. Die Unberechenbarkeit ist Teil der Misshandlung, von Gewalt durch den Intimpartner Betroffene können nie genau wissen, welche Seite des Partners zu erwarten ist. An einigen Tagen ist er fürsorglich und romantisch und am nächsten gleichgültig oder beleidigend.
In einigen Fällen überschütten missbräuchlicher Partner ihre Gefährtinnen mit „kleinen Freundlichkeiten“, wenn sie merken, dass diese sich emotional zurückziehen. Diese Phasen sind eine erfrischende Abwechslung, besonders wenn man gerade eine schwere Zeit durchgemacht hat. Das lässt diese kleinen Freundlichkeiten oft grösser aussehen, als sie es sind. Trotzdem bilden sie einen Hoffnungsschimmer, dass der Wandel nahe ist. Opfer fühlen sich darin bestätigt, dass ihr Partner durchaus zu Liebe und Zuneigung fähig ist.
Das Erleben kognitiver Dissonanz
Wenn Überzeugungen und Erfahrungen nicht übereinstimmen, fühlt sich das unbehaglich an. Es ist nachvollziehbar, dieses unangenehme Gefühl vermeiden zu wollen. Aus diesem Grund kann eine natürliche Reaktion auf Missbrauch darin bestehen, sich an Verhaltensweisen oder Aktivitäten zu beteiligen, die dieses Gefühl minimieren.
Diese Reaktion kann von Person zu Person variieren. Während manche Menschen die Situation verlassen, um keine Not zu empfinden, können andere sie ignorieren, rechtfertigen oder rationalisieren. Das Erleben kognitiver Dissonanz, erschwert es, sich von der Liebe zu distanzieren, die man für den Partner empfinden.
Ein Beispiel hierfür ist, die missbräuchlichen Verhaltensweisen des Partners mit Argumenten wie „er hatte eine harte Kindheit“ zu rationalisieren. Ein weiteres ist, wenn Betroffene sich mehr darauf konzentrieren, wie schlecht er sich fühlen könnte, als darauf, wie sie sich selbst in Bezug auf dieses Verhalten fühlen.
Das Gefühl zu haben, den Partner mit Liebe heilen zu können
Einige Betroffene sehen sich selbst in der Rolle der Heilerin oder Retterin. Sie konzentrieren sich empathisch und ganz auf ihren Partner. Sie glauben, dass der Partner sich ändern wird, wenn sie selbst sich nur mehr anstrengen und ihn bedingungslos lieben.
Obwohl Empathie und Mitgefühl wichtig sind, kann die Übernahme dieser Rolle dazu führen, dass man in einer schädlichen Situation bleibt. Änderungen des Verhaltens sind möglich, aber der Partner muss sich ändern wollen. Es sind jedoch praktische Schritte und nicht leere Worte, die diesen Prozess in Gang setzen. Das bedeutet oft, professionelle Hilfe eines Therapeuten in Anspruch zu nehmen.

Das Erleben einer Trauma-Bindung, bekannt als das Stockholm-Syndrom
Wenn man eine Form von Trauma-Bindung erlebt, die als Stockholm-Syndrom bekannt ist, kann dies auch erklären, warum man sich seinem missbrauchenden Partner so nahe fühlt.
Diese psychologische Reaktion hat ihren Namen von einem Vorfall im Jahr 1973, bei dem zwei Räuber die Kontrolle über eine Bank in Stockholm, Schweden, übernahmen. Sie bedrohten und misshandelten vier Geiseln über 5 Tage lang. Als die Geiseln schliesslich gerettet wurden, zeigten sie Unterstützung für die Räuber. Eine weibliche Geisel verlobte sich später mit einem ihrer Geiselnehmer und eine andere Geisel sammelte Geld für den Gerichtsprozess.
Seitdem wird der Begriff verwendet, um eine psychologische Bindung zu beschreiben, die zwischen „Missbrauchern“ und „Missbrauchsopfern“ hergestellt wird. Dieses Phänomen zeigt sich häufig nach Entführungen oder Gefangenschaft, kann aber auch in jeder anderen missbräuchlichen Beziehung vorkommen. Welche Faktoren zur Entwicklung eines Stockholm-Syndroms beitragen, ist den Experten noch unklar. Aber es zeigt, dass sich in manchen Situationen eine starke Bindung zwischen dem Verletzten und dem Verletzenden entwickeln kann.
Resumée und Schlusswort
In einer Beziehung mit einem missbräuchlichen Partner zu sein, führt dazu, dass man sich verwirrt und unsicher fühlt. Viele Betroffene quälen sich selbst mit der Frage, wie es sein kann, dass sie ihren gewalttätigen Partner immer noch lieben. Es ist nicht ungewöhnlich, immer noch liebevolle Gefühle für jemanden zu empfinden, der sich missbräuchlich verhalten hat.
Es gibt nichts, was Betroffene getan oder nicht getan haben, was Missbrauch rechtfertigt. Und ein missbrauchender Partner braucht möglicherweise professionelle Unterstützung, die weit über die Liebe und Fürsorge einer Partnerin hinausgeht.
Betroffene sollten versuchen, ihre Aufmerksamkeit zurück auf sich selbst zu richten und Entscheidungen zu treffen, die ihnen helfen, sich besser zu fühlen und besser zu leben. Auch wenn es aufgrund von Gefühlen schwierig erscheint, sollte das Verlassen einer missbräuchlichen Beziehung der nächste Schritt sein. Es kann sehr hilfreich sein, sich die Unterstützung einer Fachperson (Psychotherapeut, Psychologe) zu holen.
Es ist möglich, jemanden zu lieben, der einem verletzt hat, und es ist auch möglich, sich trotz dieser Gefühle von dieser Beziehung zu lösen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen generell kein Verständnis dafür haben, wenn man als misshandelte Frau in die Beziehung zurückkehrt. Ich hatte anfangs viele Helfer, die sich jedoch alle abgewendet haben, als ich es nicht beim ersten Versuch geschafft habe, mich endgültig zu lösen. Quasi nach dem Motto: Die ist selber Schuld, will es ja nicht anders. Das war sehr belastend und ich hatte enorme Schuldgefühle. Habe mich so verachtet, weil da immer noch Liebe in mir war für diesen Scheisskerl der mich so dreckig behandelt hat. 😫
Wichtiges Thema! 👍