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ÄVPS und Liebesbeziehungen

Betroffene einer Ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung wünschen sich sehnlichst Liebesbeziehungen. Ihre anhaltende Unfähigkeit einen Partner zu finden oder erfüllende Liebesbeziehungen zu führen, ist sicher einer der häufigsten Gründe warum Betroffene einen Therapeuten aufsuchen.

Liebesbeziehungen: 4 Stufen, 4 Spielarten

Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen und den Berichten anderer Betroffener, konnte ich bis jetzt vier „Liebesbeziehungs-Stufen“ ausmachen. Viele Betroffene verfolgen im Lauf ihres Lebens jede dieser Strategien phasenweise, zumindest bei mir war das so. Die Treppe ist also nicht nur von unten nach oben begehbar, sondern in jeder Richtung. Auch können dabei Stufen übersprungen werden.

Wie sich das bei jedem einzelnen Betroffenen darstellt, kann man natürlich nicht verallgemeinern. Schliesslich sind wir trotz gemeinsamer Störung immer noch Menschen und somit Individuen. Aber ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass alle Betroffenen sich bereits auf einer oder mehrerer meiner vier Stufen rumgetrieben haben.

Stufe 1: Erst gar nicht versuchen

Dies sind Betroffene, die nicht aktiv nach einem Partner suchen. Sie sind der Überzeugung, dass „sie sowieso keiner haben will“ und die störungstypische Angst vor Ablehnung verhindert jeden Versuch jemanden kennenzulernen.

Oberflächlich versuchen sich Betroffene diese Strategie oft schön zu reden, beispielsweise indem sie sich einreden, dass Liebesbeziehungen überschätzt werden oder sowieso alle Männer/Frauen Schweine/Schlampen sind. Aber natürlich wissen sie auch, dass sie sich selbst belügen, weil die Sehnsucht bleibt.

Ebenfalls häufig wird das „Nicht-versuchen“ dadurch erreicht, dass für den Betroffenen nur unerreichbare Partner überhaupt in Frage kommen. Interessant ist dann nur das, was sie nicht kriegen können und bei allem was prinzipiell möglich wäre, macht ihr Herz noch nicht mal einen winzigen Hüpfer.

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Eine weitere Spielart dieser Stufe, ist das was ich das „eine Hand einladend ausgestreckt, die andere zur Faust geballt hinter dem Rücken“-Strategie nenne. Betroffene sind in ihrem Verhalten dermassen abweisend, dass sie mögliche Partner regelrecht vertreiben.

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Stufe 2: Sex anstatt Liebe

Viele Betroffene reihen eine sexuelle Erorberung an die nächste. Sie suchen Kontakt zu möglichen Partnern, um dann bereits kurz nach der ersten Begegnung Sex zu haben. Danach schwindet nicht nur ihr sexuelles, sondern auch ihr, anfangs durchaus vorhandenes, romantisches Interesse rapide. Paradoxerweise erst recht, wenn diese sexuelle Begegnung angenehm war und die andere Person signalisiert, dass da auch mehr daraus werden könnte.

Diese „ONS-in-Serie“-Betroffenen legen es keineswegs darauf an, ihren Selbstwert mit möglichst vielen Eroberungen aufzupolieren, noch sind sie sexsüchtig. Ihre Motivation ist ihre Sehnsucht nach Nähe und ihre Hoffnung endlich romantische Liebe zu finden. Genau diese Nähe macht ihnen jedoch furchtbare Angst. Sie erwarten Zurückweisung, Abwertung, Verletzung und das wie magisch weggezauberte Interesse am „Tag danach“ ist ihre Schutzreaktion.

Eine andere Ausdrucksmöglichkeit dieser Stufe, sind Betroffene die mit jedem den sie sich als Partner vorstellen können, sexuell intim werden. Oft genug sind sie bereits vor dem ONS verliebt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind sie nach dem Sex verliebt. Diese Gefühle werden in der Regel nicht erwiedert und „Können wir nicht einfach Freunde sein?“ ist ein Satz, den diese Betroffenen oft zu hören bekommen. Natürlich wollen sie nicht „einfach Freunde sein“. Sie hatten auf eine Beziehung gehofft, aber anstatt ihr Herz anzubieten, haben sie mit ihrem Körper gehandelt.

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Stufe 3: Giftige Beziehungen

Betroffene einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung finden sich oft an der Seite von Partnern, die sie ganz objektiv betrachtet, mies behandeln. Männer die körperliche Gewalt anwenden; Frauen die lügen und betrügen; Narzissten, die in ÄVPS-Betroffenen das perfekte Opfer finden; Alkohol- oder Suchtkranke Partner; Menschen die sie bestehlen, vergewaltigen, ausnutzen, demütigen, schlagen.

Es sind verrückte und enorm schädliche Liebesbeziehungen. Und das alles für ein bisschen Liebe oder auch nur für eine schlechte Kopie dessen, was Liebe ausmacht. Oft stellen sich Betroffene selber die Frage: „Warum tue ich mir das an?“. Die Antwort liegt in ihrer inneren, nicht zwingend bewusst wahrgenommenen, Überzeugung, es nicht besser verdient zu haben oder es sei ihnen absolut unmöglich, einen anderen Partner zu finden.

Diese giftigen Liebesbeziehungen haben eines gemeinsam: Sie werden unerträglich. ÄVPS-Betroffene harren meist nicht Jahre oder gar Jahrzehnte in schädlichen Beziehungen aus. Die Verletzungen davontragen sind tief und traumatisierend und führen dazu, dass Betroffene „zusammenklappen“. Ein klassischer Moment, indem Betroffene einen Therapeuten aufsuchen oder sich – akut suizidgefährdet – sogar in stationäre Behandlung begeben.

Stufe 4: Zu (?) gute Partner

Manchmal passiert auch im Leben eines ÄVPS-Betroffenen ein kleines Wunder. Er verliebt sich in einen Menschen, der diese Liebe aufrichtig erwiedert und kein Gift mit in die Beziehung bringt. Sie bieten eine liebevolle, einfühlsame, respektvolle, wertschätzende, erfüllende, andauernde Beziehung. Also genau das, was ÄvPS-Betroffene sich so sehnsüchtigst wünschen.

Happy End? Leider nein. Denn auch hier ist der Betroffene innerlich überzeugt, dass diese Beziehungen irgendwann enden. Dass die Zurückweisung nur noch viel schlimmer werden wird, weil es vorher so unsagbar schön war. Ihre Ängste bleiben und werden oft von ihnen selbst nicht erkannt.

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Stattdessen bekommen sie in der Beziehung nach der Phase der ersten Verliebtheit – also wenn’s richtig ernst wird – den „bösen Blick“. Eigenschaften und Verhalten ihres Partners die sie als negativ bewerten, bekommen mehr Aufmerksamkeit, als die positiven. ÄVPS „denken sich ihre Beziehung regelrecht madig“. Sie versteifen sich auf alles, was gegen mehr Nähe spricht und erleben, wie ihre eigenen romantischen Gefühle dahinschwinden.

Sie fangen an Sicherheitsabstand herzustellen, ziehen sich innerlich aus der Beziehung zurück. Der Partner wiederum reagiert auf die offensichtliche Abkühlung seines Herzblattes natürlich irritiert. Eine Irritation die sofort den „bösen Blick“ des ÄVPS-Betroffenen auf sich zieht, der seine/n noch-Liebste/n ja sowieso schon auf alles scannt, was schief gehen könnte. Teufelskreis geschlossen.

Man könnte das Phänomen so beschreiben, dass sich ÄVPS-Betroffene verbieten, sich auf Liebe einzulassen, damit sie im Falle eines Verlusts dieser Liebe nicht ganz so tief verletzt werden. Leider kann eine romantische Beziehung nicht gedeihen, wenn einer von beiden sich dies zwar wünscht, aber es gleichzeitig auch nicht zulassen kann.

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Bella

Mir stellt sich die Frage, wie ich als ÄVPS-Betroffener selbst erkenne, ob ich in Stufe 3 oder 4 bin. Woher weiß ich, dass der Partner mir nicht gut tut oder ob ich mir das nur durch den "bösen Blick" einbilde.